Regina Berlinghof

Der "andere Zustand"
Ernst-Wilhelm Händler zu Musil, zur Biographie Karl Corinos, zu Ernst Mach und zur "taghellen Mystik"
(Artikel in der FAZ vom 28. Mai 2004:  "Wenn wir leben")
  Ernst-Wilhelm Händler schreibt: "Der Autor dieses Artikels kann dem Leser versichern, daß er das utopische Reich des "anderen Zustands" noch nicht betreten hat. Er hat auch keine große Lust dazu. Denn er müßte sich dort ganz still betragen, keinem Verlangen Platz lassen, seinen Geist aller Werkzeuge berauben, alles Wissen ablegen. Ob er dann tatsächlich die Erfahrung machen würde, daß sich das Außen mit dem Innen dieses Zustands berühren?"
Händler gibt ehrlich zu, daß er den "anderen", den "mystischen" Zustand nicht kennt. Das ehrt ihn. 
Dem studierten Philosophen aber ist sicherlich auch Wittgensteins berühmter Satz vertraut: 'Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen'. Er hätte ihn beherzigen sollen. Denn völlig überflüssig sind seine Spekulationen darüber, ob der mystische Zustand erstrebenswert und unter welchen Voraussetzungen er zu erreichen wäre. 
Seine verächtlich-abwehrenden Argumente erinnern an das Verhalten von Zehnjährigen, wenn sie ein sich küssendes Paar sehen. "Dann stecken sich gegenseitig die Zunge in den Mund! IIhhhh" 
Nach einigen Jahren werden junge Erwachsene über ihr "kindisches Geschwätz" von gestern lachen. Sie hatten wie altkluge Kinder vorschnell geurteilt: Nur von außen gesehen, ohne eigene Erfahrung.

"Er müßte sich ganz still betragen". Also lärmt E.W. Händler unentwegt? Auch im Kino, im Theater, im Museum? Auch da muß man sich still betragen. Vor allem aber als Schriftsteller. Es gibt kaum eine geräuschärmere Tätigkeit, abgesehen vom Klicken der Computertastatur oder dem Schürfen des Bleistifts oder Kulis über ein Blatt Papier. 
"Keinem Verlangen Platz lassen". Das sind Märchen, die Gurus ihren Jüngern erzählen, um sie besser steuern zu können. Die Erleuchtung des "anderen Zustands" geschieht unabhängig vom Willen. Egal ob mit oder ohne Verlangen. Ob im Meditationssitz oder mitten auf dem Marktplatz. Ob allein oder im Liebesspiel mit dem geliebten Menschen.
"Seinen Geist aller Werkzeuge berauben". Stimmt - es gibt kein Werkzeug, mit dem man den "anderen Zustand" herbeizaubern oder auch verhindern könnte. Mit den Mitteln des Verstandes nicht zu ergründen. Es geschieht von selbst. Wie ein Geschenk, wie eine Gnade. 
"Alles Wissen ablegen". Also vergessen à la Alzheimer oder dumm und ignorant werden? Das wäre wohl das schlimmste, was einem intelligenten und gebildeten Menschen passieren kann. 
Unsere Musiklehrerin und Chorleiterin hat uns vor der eigentlichen Probe immer erst einmal gründlich ausatmen lassen. Mehrfach. Um Platz zu schaffen für frische neue Luft in den Lungen. Zen-Meister reden von der Tasse, die erst leer sein muß, bevor sie gefüllt werden kann. 
Dann etwa Gehirnwäsche? Altes Wissen wird verdrängt, um neues an seine Stelle zu setzen? 
Weder noch. Es geht um Austausch, um Erneuerung. Ohne Ausatmen erhält der Körper keine frische Luft und das Herz wird nicht mehr mit Sauerstoff versorgt. Ohne Schlaf (in dem wir auch unser Wissen ablegen und anfangen zu träumen) werden wir verrückt; ohne Stuhlgang hilft alles Essen nichts: wir sterben. 
Aber wer schon einmal ein Buch gelesen, einen Song gehört, eine Landschaft, einen Mann oder eine Frau gesehen hat und alles andere dabei vergessen hat, der weiß, was ich meine. Es geht nicht darum, sein Wissen für immer zu vergessen oder zu verdrängen, sondern Platz zu machen für etwas anderes, wichtigeres. Etwas, das nicht nur unsere Oberfläche anrührt, sondern uns im ganzen. Dann werden neue Dinge erkannt, die Gewichte verschieben sich. Es ist wie die Wanderung auf einen hohen Berg. Mit jedem Schritt nach oben wird unser Blick ins Tal weiter.

Erst die eigene Erfahrung schafft wahre Erkenntnis. Ein Zitat von einem anderen Philosophen: Schopenhauer: "Die eigentliche Weisheit ist etwas Intuitives, nicht etwas Abstraktes. Sie besteht nicht in Sätzen und Gedanken, die Einer als Resultate fremder oder eigener Forschung im Kopfe fertig herumtrüge: sondern sie ist die ganze Art, wie sich die Welt in seinem Kopfe darstellt." (Die Welt als Wille und Vorstellung Band 2, "Vom Verhältniß der anschauenden zur abstrakten Erkenntniß")

Ich wünsche Ernst-Wilhelm Händler, daß er noch zu Lebzeiten über sein heutiges philosophisches Dummschwätzen lachen kann!
 

 
 
START
zur Homepage
(Übersicht)
zurück